Buchrezension: Europa in vollen Zügen

Sechs Wochen, sechs Länder und ein Interrail-Ticket. Mady Host reist erst allein, dann mit einer Freundin von Ost nach Süd mit dem Zug durch Europa. Mit im Gepäck: Ihr Backpack, Wanderschuhe und ein altes Tastenhandy ohne Internet. Und jede Menge Vorurteile. Denn mit denen möchte sie aufräumen und herausfinden, was stattdessen typisch für die Länder ist, die sie bereist. Im Auftrag der Stadt Magdeburg will sie für ein Videoprojekt außerdem herausfinden, was unsere ausländischen Nachbarn für typisch Deutsch halten. 

Die Kapitel sind aufgeteilt in Stationen, jedes Land bekommt eins. Anfangs listet Mady mit einem ironischen Augenzwinkern die Dinge auf, an die man zuerst bei dem jeweiligen Land denkt. Dann folgen ihre Erlebnisse, ehe sie am Ende eines Kapitels Fazit zu Land und Leute zieht und festhält, was als typisch Deutsch gilt. Mady schreibt sehr bildlich und nimmt den Leser wortwörtlich mit auf die Reise. Die Zeilen verschwimmen vor den Augen und es fühlt sich an, als ob man mit Mady und ihrer Freundin in den eiskalten See in Slowenien springt, durch die Schweiz einen Teil des Jakobswegs pilgert oder mitten in Venedig zwischen Wasser und Häusern in einem Garten zeltet. Das Besondere an Madys Reisen ist, dass sie immer ohne Smartphone und große Pläne unterwegs ist. Sie hat keine Unterkunft gebucht, weiß am Morgen noch nicht, wo sie abends schläft. Ohne Internet ist sie auf die Einheimischen angewiesen, wodurch sich unvergessliche Momente und tiefe Gespräche ergeben. In jedem Land besucht sie weitläufige Verwandte oder Freunde und Bekannte, die sich von früheren Reisen kennt. Wer selbst schon einmal mit dem Rucksack unterwegs war weiß, wie schnell sich aus Bekanntschaften tiefgründige Gespräche und enge Freundschaften entwickeln können. Und genau dieses Gefühl bringt das Buch zum Ausdruck. Sie schafft es, die Besonderheit und Leichtigkeit, die solche Reisen haben, zwischen die Zeilen zu packen. Und wenn sie mit einer alten Pilgerbekanntschaft in einer lauen Sommernacht durch Brno in Tschechien spaziert, spürt man die sommerliche Abendsonne auf den Armen. Auf so einer langen Reise mit so einfachen Mitteln ohne großen Luxus wird man natürlich auch nachdenklich - so auch Mady. Zwischen ihren Erlebnissen schlägt sie hin und wieder auch nachdenkliche Töne über das Leben, die Zeit und das Reisen an. Es regt selbst zum Nachdenken an, ohne die schöne Stimmung, die das Buch verbreitet zu trüben. "Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen" zitiert sie Guy de Maupassant am Anfang ihres Buches. Passender, hätte kein Spruch das Buch auf den Punkt bringen können. 

Ich gerate ins Schwärmen, wie ihr merkt. "Europa in vollen Zügen" hat mir zwar weniger Geschichten aus dem Zug mitgebracht, als ich es erwartet habe, aber dafür umso mehr zwischenmenschliche Geschichten, tolle Einblicke in einige mir noch unbekannte europäische Länder und vor allem eins: Ein Lächeln auf den Lippen. Das Buch ist aber nicht nur Backpackern zu empfehlen, die sich an ihre Reisen erinnern und sich in Mady hineinversetzen können, sondern auch für alle, die unser vielfältiges Europa lieben. Locker-leicht, mit einem liebenswerten Charm und einer leicht-ironischen Haltung an der ein oder anderen Stelle, vor allem sich selbst gegenüber, ist das Buch eine wunderbare Lektüre - nicht nur für den Zug.